Amir Durrani, Executive Vice President of Projects & Application Services von NTT DATA Services, spricht mit Gernot Kapteina, Gründer von OYSTEC, über das Design und Management globaler Liefermodelle in der IT-Branche und darüber, wie sich Shoring in Zukunft weiterentwickeln wird.
Amir, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Du bist einer der Top-Führungskräfte in NTT DATA Services, die etwa 50.000 der 130.000 Mitarbeiter der NTT DATA Corporation weltweit beschäftigen. Dein Level ist Executive Vice President (EVP), und Du führst ein Team von mehr als 15.000 Mitarbeitern. Was mich interessiert ist: Wie bist Du an diesem Punkt angekommen - wie verlief Dein Karriereweg, damit das möglich wurde?
Durrani: Ich habe meinen Bachelor- und Masterabschluss in Chemieingenieurwesen an der University of Massachusetts Amherst und der University of Minnesota Minneapolis gemacht. Mein Einstieg in die IT-Branche ergab sich während meiner Masterarbeit: Das Thema meiner Arbeit war "Mathematische Modellierung von biotechnologischen Prozessen der Wundkontraktion". Das zu lösen, erforderte damals Superpower-Computer.
Nach meinem Abschluss ging ich zu Aspen Technology in Cambridge, Massachusetts. Diese Firma war ebenfalls auf die chemische Industrie spezialisiert. Als Softwareentwickler begann ich mit Fortran, C und C# zu arbeiten. Ich war acht Jahre lang bei AspenTech. Bevor ich AspenTech verließ, arbeitete ich als Produktmanager für deren Vorzeigeprodukt. Ich sammelte enorme Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit IT-Fachleuten auf der ganzen Welt. Während dieser Zeit begann sich die Offshore-Softwareentwicklung zu entwickeln. Ich war neugierig darauf, wie man sich global als Organisation aufstellen kann, damit ein Offshore-Softwareentwicklungsmodell funktioniert.
Im Anschluss daran trat ich 1999 dem in Kalifornien ansässigen Unternehmen IT Services (ITS) bei. Diese Firma arbeitete nach einem starken Shoring-Prinzip, und dort arbeiteten nur noch 20-25% der Ressourcen in den USA; der Rest arbeitete ausschließlich von Indien aus. Ein sehr ähnliches Modell wie bei großen indischen Unternehmen. Dies gab mir die Möglichkeit, das globale Liefermodell von Grund auf zu verstehen. Später wurde ITS in Caritor umbenannt, das 2007 Keane aufkaufte. Keane war ein großer Name in Massachusetts, bekannt für Programm- und Projekt-Management. Diese Firma war 2007, als die Übernahme stattfand, ein 700 Mio. USD schweres Großunternehmen.
Nach der Übernahme hatte ich die Möglichkeit, in London zu arbeiten und das UK-Geschäft für zwei Jahre zu leiten. Danach kehrte ich in die USA zurück und wurde erneut promotet; diesmal nach Australien, wo ich von Melbourne aus für das gesamte APAC-Geschäft verantwortlich war. Ich war dort z.B. für ein großes Implementierungsprojekt im Bundesstaat Victoria in Australien zuständig. Dann wurde Keane, wie Du weißt, im Jahr 2010 von NTT DATA gekauft. Als ich 2012 in die USA zurückkehrte, habe ich die Global Delivery Rolle für NTT DATA Services übernommen.
Deine aktuelle Rolle ist als EVP für "Projects & Application Services" ausgewiesen. Was hat es damit auf sich, was sind Deine Verantwortlichkeiten?
Durrani: Mein Hauptaugenmerk bei der Arbeit für Bob Pryor (Anm.: CEO von NTT DATA Services) liegt auf der Betreuung des nordamerikanischen Marktes. Was wir eigentlich tun, ist, unseren Kunden End-to-End-Anwendungsservices zu bieten. Das beinhaltet jegliche Entwicklungsarbeit, Support und Implementierungen von Softwarepaketen oder Kundensoftware. Wir unterstützen Nordamerika, Europa und Asien-Pazifik am meisten von Indien aus. Für Japan haben wir zum Beispiel ein dediziertes Zentrum in Pune, Indien, das sich ganz auf den Support von Anwendungen für Japan konzentriert. Von Bangalore aus unterstützen wir daneben NTT DATA in Europa und bedienen darüber hinaus auch den lokalen indischen Markt innerhalb der APAC-Region.
Wir haben uns vor wenigen Jahren zum ersten Mal in Tokio getroffen. Damals warst Du in Zusammenarbeit mit der japanischen NTT DATA Zentrale auch für das Shoring-Modell für NTT DATA Services verantwortlich - also dem Aufsetzen von Projekten und anderen IT-Verträgen mit Hilfe von Nearshore- und Offshore-Ressourcen. Kannst Du unseren Lesern erklären, wie Shoring bei NTT DATA als eines der Musterbeispiele der IT-Branche funktioniert?
Durrani: Eine der wichtigsten Initiativen, die wir mit der Muttergesellschaft NTT DATA gestartet haben, war die Schaffung von konsistenten Prozessen und Methoden über die verschiedenen Liefereinheiten innerhalb von NTT DATA. Als Teil dieser Initiative haben wir ein Repository mit dem Namen NCORE geschaffen, das im Grunde alle gemeinsamen Prozesse und Methoden enthält, die NTT DATA als Organisation in Bezug auf die Programm- und Projektabwicklung verwendet. Das war eine großartige Initiative für uns, weil wir die Möglichkeit hatten, uns mit Kollegen aus Japan und aus der ganzen Welt auszutauschen, wie zum Beispiel aus Vietnam, Rumänien, Spanien, Italien und Indien. Wir waren in der Lage, Best-in-Class-Prozesse und -Methoden zu identifizieren, die wir als Organisation für unsere Kunden implementieren konnten. Wir sehen eine verstärkte Nachfrage, denn unsere globalen Kunden nutzen die NTT DATA Teams nun in noch mehr unterschiedlichen Ländern durch Verwendung eines allerbesten Shoring-Mixes.
Indien ist dabei weiterhin der größte Offshoring-Standort aus naheliegenden Gründen, und zwar sind das die Sprache und die Qualität der Talente, die es jedes Jahr produziert. Für den nordamerikanischen Markt haben wir außerdem ein Nearshore-Zentrum in Halifax, Kanada, Mexiko und Costa Rica. Und in Osteuropa arbeiten wir mit NTT DATA Rumänien zusammen. Sie haben eine exzellente Arbeitsbeziehung mit uns und bieten entsprechenden Nearshore-Support an.
NTT DATA ist ein Rollenmodell für den Aufbau eines weltumspannenden Shoring-Netzwerks als sehr großes, globales IT-Unternehmen. Aber was denkst Du, wie sollten kleinere IT-Firmen anfangen, ihre Shoring-Netzwerke aus Sicht eines Käufers zu entwickeln? Zum Beispiel ein Start-Up oder ein mittelständisches IT-Unternehmen in den USA, Europa oder Japan, das noch keinen Shoring-Lieferanten hat?
Durrani: Es gibt zwei Aspekte in dieser Betrachtung, wenn man über Shoring spricht: Erstens, ist der Zielmarkt bereit, Shoring zu akzeptieren? Und zweitens, ist der Quellenmarkt, in dem das Shoring betrieben werden soll, in der Lage, diese Art von Dienstleistungen anzubieten? Shoring ist auf der ganzen Welt ja sehr weit ausgereift. Insbesondere die USA haben sich in Bezug auf Offshoring in den letzten 10-15 Jahren weiterentwickelt. Europa hat die gleiche Entwicklung dann auch durchgemacht. Das Gute ist, dass die meisten Kunden die Vorteile von Global Delivery mittlerweile erkannt haben. Sie sind jetzt viel offener dafür.
Der nächste Schritt ist, wie fängt man an, wenn man keine Shoring-Organisation in einem Shoringanbieterland hat, in das man Arbeit auslagern möchte? Meine persönliche Empfehlung ist, dort zuerst mit einem kleineren lokalen Unternehmen zusammenzuarbeiten, das über Kapazitäten im Shoring verfügt und die Bedarfe an Shoring-Services über dieses Unternehmen laufen zu lassen. Wenn man mit so einem kleinen Unternehmen zusammenarbeitet, das bereits über diese Shoring-Kapazitäten verfügt, kann man deren bestehende Infrastruktur nutzen, um Shoring in Gang zu bringen. Zum Beispiel muss man sich erst einmal nicht um Einrichtungen, Talentakquise, etc. kümmern. Das gibt einem die Möglichkeit, sich auf die Entwicklung des eigentlichen Geschäfts weiterhin zu konzentrieren. Erst wenn man skaliert und einen Kundenstamm aufgebaut hat, sollte man darüber nachdenken, wie man sich in Shoringgeberländern weiterhin aufstellt.
Heutzutage ist Shoring überdies auch kein zentrales Unterscheidungsmerkmal mehr. Das Unterscheidungsmerkmal, nach dem Kunden heute suchen, geht weit über Shoring hinaus: Sie interessieren sich für den Unternehmensnutzen, dafür, wie man Geschäftsprozesse verändern kann, um Produktivität und Effizienz zu steigern und dem Endkunden ein positives Ergebnis zu liefern.
Inwieweit beeinflussen denn kulturelle Prägungen die Gestaltung von Shoringnetzwerken?
Durrani: Wenn man ein globales Liefermodell nutzen möchte, besteht eine der ersten Herausforderungen darin, die Sprachbarriere zu überwinden. Das ist der Grund, warum Indien heute das bevorzugte Land für Shoring ist, weil alle lokalen Absolventen über ausreichende Englischkenntnisse verfügen. Die zweite ist die Kultur. Wenn man erfolgreich im Shoring arbeiten will, muss man auch das lokale Umfeld verstehen. Du musst verstehen, wie die Menschen denken, wie sie kommunizieren und wie man es schafft, dass sie sich wohl fühlen und frei mit einem kommunizieren. Zwei-Wege-Kommunikation ist wichtig, und man muss in der Lage sein, Dinge zu verstehen, die mit der Kultur zu tun haben.
Und dann ist da noch die Zeitverschiebung, die es zu beachten gilt. Viele Kunden in Nordamerika ziehen es zum Beispiel vor, mit Halifax oder Costa Rica zu arbeiten, weil die zeitliche Zone näher ist, da es in der Nähe der Ostküste der Vereinigten Staaten liegt. Einige der Arbeiten, die wir in den Bereichen Agile, DevOps und weiteren durchführen, erfordern Live-Interaktionen mit Kunden. Und wenn unsere Kunden erwarten, dass ihre Lieferteams während der Arbeitszeiten für sie verfügbar sind, wird eine Nearshore-Präsenz immer wichtiger.
In unseren jüngsten Gesprächen, auch vor dem Hintergrund, dass NTT DATA ein riesiges globales IT-Unternehmen ist, hast Du auf die Bedeutung "ergebnisorientierter Leistungen für Kunden der IT-Branche" hingewiesen. Was ist der Grund dafür, diesen Punkt explizit anzusprechen; ist es nicht fair anzunehmen, dass jeder IT-Player versuchen würde, diesen Zustand anzustreben?
Durrani: Shoring war vor 15-20 Jahren eine starke Value Proposition. Aber heute ist das nicht mehr der Fall: fast jeder nutzt jetzt Shoring. Infolgedessen suchen immer mehr Kunden nach neuen Arten von Anbietern und Partnern, die nun sowohl das Risiko als auch den Nutzen mit ihnen in größeren Vertragskonstellationen teilen können. Sie suchen nach Partnern, die das Geschäft und die geschäftlichen Herausforderungen verstehen, die ins Spiel kommen und echte Partner und Berater sein können, anstatt "Ich liefere diese KPIs, und Sie zahlen mir x Dollar im Monat, und so lange ich die KPIs liefere, zahlen Sie weiter." Viele Kunden bewegen sich weg von diesem traditionellen Modell.
Auch das Geschäft der Kunden selbst verändert sich natürlich. Die globale Wirtschaft entwickelt sich, wird komplexer, die Wege werden kürzer. Hier kommt die Outcome-Based Proposition ins Spiel, bei der wir als echter Partner unseren Kunden vorschlagen, dass es bestimmte Geschäftsziele gibt, bei denen wir den Nutzen mit ihnen teilen, und wenn wir ihre Ziele nicht erreichen, werden auch wir dafür abgestraft. Wir haben uns die Geschäftsprozesse verschiedener Branchen angesehen und geschaut, wo wir weitere Mehrwerte für unsere Kunden schaffen können. Bei Krankenkassen zum Beispiel ist eine der größten Kosten das Bezahlen von medizinischen Ansprüchen, die von verschiedenen Anbietern ausgehen. In diesem Bereich besteht eine unserer Dienstleistungen darin, die Genauigkeit der Ansprüche für diese Kunden zu verbessern. Und in der Fertigung schauen wir uns zum Beispiel die Lieferkette und das Bestandsmanagement an, um zu sehen, wie wir diese Geschäftsfunktionen für unsere Kunden verbessern können.
Wenn wir von Optimierung sprechen, kombinieren wir Anwendung, Infrastruktur und BPO-Dienstleistungen miteinander. Das Endprodukt ist etwas, auf das sich der Kunde verlassen kann, und unser Erfolg ist eng mit seinem Endergebnis verbunden. Die Branche ist schnelllebig. Wir arbeiten intern mit unseren Kunden zusammen, um diese Art von ergebnisbasierten Angeboten weiter zu entwickeln. Unsere digitalen Angebote sind nun überarbeitet und angepasst worden.
Indien wird oft als typisches Beispiel für Shoring im Kontext von Offshoring genannt, während Länder aus Lateinamerika (wie Chile) als Nearshore-Länder für Nordamerika und Länder aus Osteuropa (wie Rumänien) als Nearshore-Länder für Westeuropa gelten. Wird diese Art von Verständnis vorerst so bleiben, oder siehst Du in naher Zukunft einen neuen Trend zu neuen Shoring-Regionen oder -Ländern?
Durrani: Es wird immer einen Bedarf an Nearshore und Offshore geben. Ich habe erwähnt, dass sich die Industrie so entwickelt, dass die Kunden sich mehr und mehr auf das Endergebnis konzentrieren. Es ist ihnen egal, wie viele Leute es liefern und von wo aus. Der Fokus liegt erst einmal auf dem Geschäftsergebnis. Die Zentren, die Du angesprochen hast, sind dazu großartige Zentren; zum Beispiel hat Chile wirklich starke Nearshore-Kapazitäten entwickelt. Auch Costa Rica hat sich in ähnlicher Weise sehr gut entwickelt. Wir werden weiterhin solche Länder in Lateinamerika aufstreben sehen, und natürlich auch in Osteuropa. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war zum Beispiel Polen sehr beliebt und ist es in gewisser Weise immer noch. Und Irland ist auch sehr beliebt für Nearshore-Zwecke.
Aber auch andere, neue sind im Kommen. Darum werden wir auch weiterhin diese neuen Länder für Offshore- und Nearshore-Möglichkeiten bewerten; dies ist ein fortlaufender Prozess. Als globaler IT-Anbieter ist es unsere Aufgabe, unser Netzwerk jährlich zu überprüfen und Entscheidungen auf Basis der Kundenbedürfnisse in Form unserer eigenen Strategie zu treffen.
Wir haben jetzt sehr interessante Einblicke von Dir in die Denkweise von IT-Unternehmen bekommen, die Shoring professionell global betreiben. Lass mich Dich als letztes fragen: Werden IT-Firmen immer versuchen, Shoring auf diese bestmögliche Art und Weise zu betreiben, oder denkst Du, dass es irgendwann nicht vielleicht doch noch einmal zu einer Art Trendwende kommen wird, sprich, dass sich IT-Anbieter für gewisse Services wieder mehr auf eigene, lokale Ressourcen besinnen?
Durrani: Es gibt vier Säulen des Shorings: beim Kunden vor Ort, onshore, nearshore und offshore. Um heute auf dem Markt erfolgreich zu sein, musst Du eigentlich alle vier Säulen bedienen. Basierend auf den spezifischen Kundenanforderungen werden wir also immer das beste Shoring-Modell für unsere Kunden definieren müssen. Allerdings möchte ich erwähnen, dass es gerade in den letzten Jahren auch viele Fälle gab, in denen einige der größeren Unternehmen in den USA Dienstleistungen aus Indien zurück in die USA geholt haben. Ein gutes Beispiel ist hier der Service Desk, bei dem sich einige große US-Firmen aufgrund der Unzufriedenheit ihrer Endkunden für einige Bereiche zum Wechsel und zur Rückverlagerung entschieden haben. NTT DATA Services hat auch ein Innovations- und Entwicklungszentrum in Nashville, Tennessee, eröffnet. Es ist mehr auf die digitale Transformation und die Entwicklung von Nachwuchstalenten ausgerichtet. Es gibt Arbeitsbereiche, bei denen die Kunden aufgrund der Komplexität und der strategischen Natur des Projekts daran interessiert sind, Arbeit vor Ort erledigen zu lassen. Aber ich möchte auch betonen, dass wir weiterhin einen Anstieg der Nachfrage nach Ressourcen in Indien sehen.
Amir, ich danke Dir für dieses Interview!
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